Ein Blick in eine fremde Welt Drucken
Informationen - Nachrichten

Schermanns Augen – Lesung mit Steffen Mensching am 18. November 2019 am Heinrich-Böll-Gymnasium Saalfeld  


"Ins Böll-Gymnasium passt es ganz gut, so ein bisschen moderne Literatur vorzustellen. Das Buch ist nicht ganz dünn – wenn wir uns beim Lesen abwechseln, könnten wir in zwei Tagen durch sein. Es gibt auch schon Menschen, die es geschafft haben [sich durch die 820 Seiten zu kämpfen].“
So beginnt der Rudolstädter Theaterintendant, Schauspieler, Regisseur und seit kurzem auch Erich-Fried-Preisträger die Lesung aus seinem Roman „Schermanns Augen“, nachdem er mit Bela Bartoks Komposition „Für Kinder“ herzlich von Jürgen Franke am Klavier begrüßt wurde. Es werden fesselnde eineinhalb Stunden, die die Zuhörer in die Welt des Graphologen Rafael Schermann, des deutschen Kommunisten Otto Haferkorn und der russischen Kriminellen Kosinzew und Uspechin im Lager Artek II im Archangelsker Gebiet führen.

Die Eingangsszene, die Mensching liest, zeigt zunächst einen auf sein Überleben bedachten politischen Häftling Otto Haferkorn, dem der alte polnische Jude Rafael Schermann als eine Last erscheint. In Haferkorns Augen ist er ein zunächst nur alter Mann, der durch einen raschen Tod vor Schlimmerem bewahrt werden könnte. Doch aus beiden wird ein Paar, das sich mit seinen Talenten ein Jahr lang am Leben erhält. Schermann ist ein genialer Handschriftendeuter und viel beachteter Wahrsager - Haferkorn, der exilierte deutsche Kommunist, arbeitet als sein Dolmetscher, den die Lagermächtigen benötigen, um mit Schermann sprechen zu können und sein Können in Augenschein und Anspruch zu nehmen.
In weiteren Auszügen stellt Steffen Mensching einige seiner wichtigsten Charaktere vor - ihn interessieren neben dem bedeutenden Wiener Graphologen auch die deutschen Kommunisten, die nach der Machtergreifung Hitlers ins russische Exil gehen und den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fallen. Darüber hinaus werden die Urki – die russischen Kriminellen – lebendig, als der Autor das Füchslein Aksjonow zu Wort kommen lässt. Dieser Mann macht in seiner Ganovensprache sehr deutlich, wie nahe Haferkorn und Schermann am Abgrund spazieren. Schließlich leuchtet auch Rafael Schermanns besondere Begabung in einer letzten Leseprobe auf.
Das sich anschließende Gespräch lässt die Zuhörer nachvollziehen, wie Steffen Mensching zu seinem Stoff kam. Es erklärt, wie er seine Recherche unter anderem in New York, Krakau, Wien und Moskau betrieb und dabei trotz vieler Irrwege, von denen er umkehren und sich nicht entmutigen lassen durfte, auch so manche Perle fand, die sein Herz höher schlagen ließ. So entdeckte er, dass die Theatermannschaft Stanislawskis mit dem berühmten Regisseur auf dem Dampfschiff reiste, mit dem auch Rafael Schermann nach New York fuhr, und gestaltete deren mögliche Begegnung in seinem faszinierenden Roman.
Mensching lässt seine Zuhörer stauen über das Schermann-Talent, indem er es teilweise erklärt und doch auch dem Genialen Raum gibt, das den Graphologen umweht. Und er sät Anregungen zum Weiterlesen, Nachforschen und Suchen nach dem, was das Leben vergangener Generationen uns über unseren Weltzustand zeigen kann, wenn wir die Augen dafür öffnen.

Anne-Kathrin Leo